Quantcast
Channel: till we *) » emanzipation
Viewing all articles
Browse latest Browse all 8

Einige Anmerkungen zum Andreae-Bauer-Papier

0
0

Tetris and the big mover I

Die Freiburger Bundetagsabgeordnete Kerstin Andreae, die baden-württembergische Wissenschaftsministerin Theresia Bauer, das Landesvorstandsmitglied Danyal Bayaz und einige weitere – zumeist in den Zentralstellen grüner Ministerien tätige – realpolitisch orientierte Menschen aus Baden-Württemberg haben in diesem Sommer die grüne Freiheitsdebatte um ein weiteres Thesenpapier ergänzt.

Vieles an dem Papier finde ich richtig. Und wer es als Erbschein für die FDP versteht, liegt falsch. Richtig finde ich insbesondere die These, dass eine bestimmte grüne Lesart einer auf Freiheit orientierten Politik gibt, die nicht nur aus den bürgerrechtlichen und emanzipatorischen Wurzeln der Partei hergeleitet wird, sondern auch aus der schlichten, aber nichtsdestotrotz wirkmächtigen Tatsache, dass individuelle Freiräume voraussetzungsreich sind.

Dies wird deutlich in Bezug auf z.B. Kinderbetreuungseinrichtungen und andere Unterstützungsstrukturen, insbesondere aber darin, dass Freiheit mit Nachhaltigkeit gekoppelt wird: Freiräume schaffen und schützen bedeutet in der Tat „unsere Lebensgrundlagen global zu schützen, denn wer die Zukunft zerstört, zerstört auch die Freiräume der Menschen, die darin leben“. Folgerichtig wird eine Politik der Investition in soziale und technische Innovationen eingefordert, verknüpft mit der Schaffung von Freiräumen für „Nerds“. Die Verknüpfung von Start-up-Kultur mit Innovation für Nachhaltigkeit, wie sie im Papier angerissen wird, ist mir hochgradig sympathisch.

Es gibt Einzelheiten, an denen herumgemäkelt werden könnte – Warum nochmal ein Nachtritt zur Veggieday-Debatte? Muss ein Verweis auf die Grünliberalen in der Schweiz sein, die sich, so mein Eindruck, bisher nicht als besonders innovativ erwiesen haben? Ist es wirklich ein Bürgerrecht, „keine Spuren im Internet hinterlassen zu müssen“ (die aktuelle Debatte um das „Recht auf Vergessen“ grüßt freundlich). (Und warum das ganze als eigene Aktion im Sommerloch gelauncht werden muss, statt es als Beitrag in die existierende Debatte zu packen – nun ja.)

Wichtiger sind mir aber zwei große blinde Flecken und ein nicht zu Ende gedachtes Argument.

Der erste blinde Fleck betrifft das Argument, dass Freiheit voraussetzungsreich ist. Es gibt im Papier eine recht beliebige Liste, die von der Verschuldungspolitik über den richtigen Platz für Religionsgemeinschaften bis zum Verbraucherschutz diverse Beispiele dafür nennt, warum Freiheit bedeutet, dass (politisch) Freiräume geschaffen und geschützt werden müssen. Auch die Problematik ungleicher Chancen wird im Papier durchaus – und richtigerweise – benannt. Aus meiner Sicht wäre es folgerichtig, an dieser Stelle sozialpolitisch zu werden, ohne Bevormundung.

Eigentlich müsste hier die ganze Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen, mindestens jedoch um den Mindestlohn angeschnitten werden. Ohne Sozialstaat keine Freiheit. Hier verdeckt die Orientierung am Markt, die für die AutorInnen einen großen Stellenwert einnimmt, eigentliche Selbstverständlichkeiten.

Dann zieht sich zweitens durch das Papier eine Angst vor Politik durch. Das mag irritierend erscheinen, sind doch fast alle AutorInnen in der einen oder anderen Weise im Politikgeschäft tätig. Immer wieder wird hier „Bürgergesellschaft“ vorgeschoben als Ort, an dem entschieden und ausgehandelt wird. Der Staat wird auf ordnungspolitische Rahmensetzung reduziert. Dass eine gesellchaftliche Verständigung über die anstehende große Transformation not tut, ist richtig. Warum die Ergebnisse dieser Verständigung, so es politische Mehrheiten dafür gibt, nicht auch – da, wo sie individuelle Freiheiten schützen, jedenfalls nicht einschränken – in Gesetze und politisches Handeln umgesetzt werden sollen, erschließt sich mir nicht. Ich meine, es hat Gründe, warum Bündnis 90/Die Grünen eine Partei sind, und nicht eine soziale Bewegung. Aus Angst vor der „Verbotspartei“ wird hier aus meiner Sicht die politische (und damit auch: parlamentarische) Arena zu stark abgewertet, so dass das Verhältnis von Politik (und letztlich Staat) zu Markt und Bürgergesellschaft deutlich aus der Balance gerät.

Zu diesen beiden großen blinden Flecken – der fehlenden sozialstaatlichen und damit materiellen Seite von Freiheit, und der Angst vor Politik – gehört schließlich eine Diskussion, die in ihren Konsequenzen im Papier unter den Teppich gekehrt wird. Das ist die Frage der ökologischen Grundlagen für Freiheit und Freiräume. Das Problem, dass auch der Erhalt der Lebensgrundlagen zu Freiheit, erst recht zu einer grün verstandenen Freiheitsdefinition gehört, wird ja durchaus benannt. Diese Aufgabe anzugehen nimmt durchaus Raum im Papier ein.

Allerdings zeigen die AutorInnen sich für meinen Geschmack sehr optimistisch: unter den richtigen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, wenn es nur genügend Freiräume für Kreativität und wissenschaftliche Neugierde gibt, dann werden schon die sozialen und technischen Lösungen entstehen, die eine ökologische Modernisierung voranbringen. Ich zweifle daran, dass das ausreicht in einer Welt, die durch massive – auch marktwirtschaftlich reproduzierte – Ungleichheitsstrukturen und entsprechende Kurzsichtigkeiten gekennzeichnet ist. Die nicht einfach zu beantwortende Frage, wie viele – demokratisch legitimierte! – Einschränkung von Freiheit der heute lebenden möglicherweise notwendig ist, um ein Überleben und damit zukünftige Freiheiten sicherzustellen, wird ebenso ignoriert wie die Blindheit des Marktes für globale Abhängigkeiten und Ungleichheiten.

In der Partei müssen wir an diesen Stellen darum ringen, wie wir uns positionieren wollen. Naiv auf Markt und Bürgergesellschaft zu setzen, reicht mir hier nicht aus. Aber, um mit einer versöhnlichen Note zu enden: Ich sehe in diesem und in anderen Beiträgen zur innergrünen Freiheitsdebatte durchaus den Korridor, in dem sich Bündnis 90/Die Grünen authentisch als die emanzipatorische liberale Kraft positionieren können, die sie sind. Und das wäre ja schon einmal etwas.

Warum blogge ich das? Weil es ja durchaus auch um das Selbstverständnis der baden-württembergischen Bürgerregierung geht.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 8

Latest Images

Trending Articles





Latest Images